Liebe Gemeindemitglieder, liebe Gäste!

Gott in der Natur

Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der Natur und Gott noch nicht zusammengedacht wurden. Oft war in kirchlichen Kreisen Abfälligkeit zu hören, wenn jemand sagte: „Ich gehe nicht in die Kirche, ich finde Gott in der Natur!“ Die sog. „Natürliche Theologie“, dass man Gott in der Schöpfung erkennen könne, wurde lange abgelehnt zugunsten eines Glaubens an eine rein übernatürliche Offenbarung Gottes.

Diese Zeiten sind lange vorbei. Auf einer Tourismustagung im April ging es unter dem Thema „Naturspiritualität“ um „Heilungswege in der Schöpfung“. Gerade in der Gästearbeit der touristischen Gemeinden in Bayern ist es selbstverständlich, dass wir Menschen Gott „natürlich“ in der Natur und seiner Schöpfung entdecken, finden und spüren können.

Das leben wir auch in Scheidegg: Gottesdienste und Veranstaltungen unter freiem Himmel sind wichtige und sehr gerne wahrgenommene spirituelle Angebote. Beim Abendliedersingen auf dem Kreuzberg, an unseren Gottesdiensten am Außenaltar bei Böserscheidegg, bei den Sonnenuntergangsgottesdiensten am Kreuzberg, bei den Angeboten des Samstagspilgerns und natürlich in unserer Arbeit im Pilgerzentrum. Pilgern wird oft definiert als „Beten mit den Füßen“. Eine Erfahrung des Körpers im Unterwegs-Sein mitten in der Natur.

Die MystikerInnen waren da schon in längst vergangenen Jahrhunderten oft weiter und fortschrittlicher als die traditionelle Kirche oder die offizielle Theologie. Bei Rumi, der im 13. Jahrhundert lebte und in der islamischen Mystik zuhause war, finden sich folgende Worte unter der Überschrift „Die Musik, die wir sind“:

Hast du gehört, der Winter ist vorbei!
Nelken und Basilikum platzen vor Lachen.

Kaum von der Reise zurück, ist die Nachtigall schon
Gesangslehrer für die Vögel.

Die Bäume überreichen Gratulationen.
Die Seele tanzt durch die Tür zum König hinauf.

Anemonen erröten, weil sie einen Blick
von der nackten Rose erhaschten.

Der einzige faire Richter, der Frühling,
breitet sich im Gerichtssaal aus.

Und ein paar Dezember-Diebe
huschen davon.

Die Wunder vom Vorjahr
sind bald Vergessenheit.

Aus Nicht-Existenz wirbeln neue Geschöpfe hervor,
Galaxien um ihre Füße verstreut. Hast du die getroffen?

Hörst du, wie in der Wiege die Jesus-Knospe summt?
Eine kleine Narzisse – Inspektor von Königreichen!
Ein Fest ist in Gang. Horch:
Es ist der Wind, der den Wein ausschenkt!

Früher versteckte die Liebe sich
hinter Bildern. Damit ist Schluss!

Der Obstgarten steckt seine Lampions auf.
In Lumpen stolpern die Toten herbei.

Nichts bleibt in Fesseln oder gefangen.
Du sagst: „Stopp dieses Gedicht hier

und wart, was als Nächstes kommt.“ Sofort.
Gedichte sind nur Gekritzel bei der Musik, die wir sind!

Ich wünsche Euch und Ihnen eine schöne und segensreiche Sommerzeit, mit vielen inspirierenden und spirituellen Erfahrungen in der Natur – als die Musik, die wir sind!

Uwe Six, Pfarrer